Die nachberufliche Phase ist die Zeit für freiwilliges Engagement. Viele gemeinnützige Organisationen freuen sich über Unterstützer*innen mit großem Erfahrungsschatz, Know-how und Wissen und wünschen sich viel mehr Menschen, die Lust auf ein interessantes Ehrenamt haben. In unseren Portraits zeigen wir, wie viel Spaß es macht, sich für andere zu engagieren, deshalb
stellt die Ehrenamt Agentur aktive Menschen aus Essen in der Reihe „Ehrenamt 60+“ vor und freut sich über besonders viele neue Interessent*innen, die sich nach dem Job noch einmal neu erfinden möchten.

Dass Ehrenamt einen großen Teil des eigenen Glücks ausmacht, weiß Waltraud Kahlert aus erster Hand zu berichten. Seit vielen Jahren ist die 80-Jährige bei der Kulturgruppe „Herbstzeitlose“ der Essener Arbeiterwohlfahrt (AWO) und in der Kinderbibliothek Heisingen als Koordinatorin aktiv. Gerne schenkt sie ihre Zeit, denn dabei lernt sie neue Menschen kennen und kann nebenbei etwas Sinnvolles für unsere Gesellschaft tun, auch wenn sie es so nicht ausdrücken würde.

Nach einem erfüllten Familien- und Erwerbsleben kam Waltraud Kahlert an einen Punkt, den nicht wenige in ihrem Alter kennen: „Mir fiel die Decke auf den Kopf! Ich habe nicht mehr so viel wie früher gearbeitet und die Kinder und Enkel waren mittlerweile groß. Da brauchte es neue Aufgaben“, erinnert sich die Engagierte.

Gelungene Neuorientierung

Seit über 50 Jahren arbeitet die energiegeladene Frau selbstständig auf Laustegen und veranstaltete in der Vergangenheit Shows. Noch immer ist sie im Fernsehen und Fotogeschäft zu sehen. Stillstand kennt sie nicht und so folgte sie vor Jahren dem Tipp einer Bekannten, es doch einmal mit einem Ehrenamt zu versuchen. Freie Zeit, einen wachen Kopf und viel Neugierde konnte sie einbringen und so ließ sie sich 2008 bei der Ehrenamt Agentur Essen e. V. beraten. „Es brauchte eine Neuorientierung. Außerdem war mein Freundeskreis in Essen überschaubar“, fasst Waltraud Kahlert zusammen: „So wollte ich einerseits für die Gesellschaft aktiv werden, gleichzeitig neue soziale Kontakte finden“.

Erstes Ehrenamt

Ihr erstes Ehrenamt trat sie bei der Theatergemeinde Essen an. Dort betreute sie Reisegruppen, übernahm den Kontakt zu Museen und organisierte Kulturausflüge, z. B.  einen Besuch der Salzburger Festspiele. Kurz darauf übernahm sie ein weiteres Ehrenamt in der nahegelegenen Kinderbibliothek. Dort ist sie noch immer aktiv und staunt selbst über die Konstanz.

Seit elf Jahren engagiert sich die gebürtige Dortmunderin jeweils einen Freitag im Monat für drei Stunden in der Bibliothek. „Aber auch auf Abruf helfe ich aus, wenn Bedarf ist“, erklärt Waltraud Kahlert. Der Kontakt zu den heranwachsenden Leserinnen und Lesern gefällt ihr besonders gut. Das Ehrenamt in einer Bibliothek für junge Menschen ist alles andere als still und sie genieße die begeisterten Kinder sehr.

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Freies Ausprobieren

Die Bibliothek für den Lesenachwuchs wäre ohne Ehrenamtliche undenkbar. Sie helfen bei der Ausleihe, Rückgabe und Büchersortierung. Vor allem aber sind sie Ansprechpartnerin und haben ein offenes Ohr für ihre kleinen und großen Gäste.

Im Ehrenamt darf man sich ausprobieren, weiß die Engagierte zu berichten: „Ich habe mich zwischendurch in einem Seniorenheim vorgestellt, fand mich aber bei dem geforderten Empfangsdienst nicht wieder. Eine Lesepatenschaft in Kitas und Schulen wiederum hätte ich sehr gerne übernommen, doch dafür war mein Berufsleben zu unstrukturiert.“

Talente einbringen

Einige Zeit später wandelte sich ihr Berufsleben erneut und mit der hinzugewonnenen Freizeit wuchs der Wunsch nach neuen Aufgaben. Eine erneute Beratung durch der Ehrenamt Agentur brachte Waltraud Kahlert 2013 zu den AWO „Herbstzeitlosen“. Eine Senioren-Theatergruppe, die mit Playbackshows die Hits vergangener Tage aufleben lässt. Hier kann sie ihre Talente und die Bühnenleidenschaft einbringen. Gemeinsam mit weiteren Laiendarstellern spielt sie seit sechs Jahren in Seniorenheimen, auf Stadtteilfesten oder auch Geburtstagen.

Bis zu 10 Rollen deckt jedes Mitglied ab. „Ich trete unter anderem als Hildegard Knef, Milva oder Barbara Schöneberger auf. Unsere Rollen passen wir immer an das jeweilige Publikum an“, erklärt die Engagierte. In den Seniorenheimen kommt dies sehr gut an. Die Stars der eigenen Generation, bekannte und emotional aufgeladene Lieder wecken positive Erinnerungen. „Die Senioren brauchen und suchen diese Momente, können Texte mitsingen und sind überglücklich, dass ihre Musik lebendig wird“, berichtet Waltraud Kahlert und ergänzt „Ich kann auf diese Erfahrungen nicht mehr verzichten!“

Neue und vor allem männliche Mitglieder sind bei den „Herbstzeitlosen“ immer gerne gesehen, berichtet die Engagierte: „Ich weiß nicht voran es liegt, vielleicht trauen sich die Herren nicht. Aber nur Mut, wir freuen uns über neue Mitstreiter!“

Gelebter Eigensinn

Ehrenamt ist immer auch gelebter Eigensinn. Waltraud Kahlert verbindet ihre Leidenschaft mit dem sozialen Engagement und setzt sich seit über einem Jahrzehnt in ihrer freien Zeit ein. Dass sie Gutes tut, würde sie so nicht sagen, auch wenn es so ist und sie kleinen „Bücherwürmern“ neuen Lesestoff vermittelt oder alten Menschen eine musikalische Zeitreise in ihre Jugend und ganz viel Lebensfreude schenkt.

Ihr Engagement ist etwas Persönliches geworden und sie ergänzt: „Meine Kindheit würde ich nicht als schön bezeichnet. Die Kriegsjahre und ein Aufwachsen im zerstörten Nachkriegsdeutschland haben mich Demut gelehrt, auch mit wenigen materiellen Dingen zufrieden zu sein. Da Lebenszeit das allerkostbarste ist, will ich diese auch verschenken.“

Text & Foto: Hendrik Rathmann